Mut verändert die Welt - ein Gespräch mit Annahita Esmailzadeh

Laut Duden ist Mut nicht nur die „Fähigkeit […] Angst zu überwinden“ sondern auch die Bereitschaft trotz zu erwartender Nachteile, etwas zu tun, das man für richtig hält. Sieht man sich in den Sozialen Medien einige wenig schmeichelhafte Kommentare unter Annahita Esmailzadeh Posts an, weiß man, dass sie viel Mut besitzt. Denn sie spricht unangenehme Wahrheiten an und nimmt die Reaktionen in Kauf.
Als Tech-Leaderin bei Microsoft, Bestsellerautorin und Business-Influencerin steht sie nicht nur für Innovation und Digitalisierung, sondern setzt sich aktiv ein für Diversität und moderne Führungskultur. Auf dem Deutschen Ingenieurtag 2025 (DIT) wird sie im Rahmen der Fachsession VDI-WoMentorING darüber sprechen, wie Widerstand zum Antrieb für Veränderung werden kann, um so auch die nächste Generation von MINT-Führungskräften zu inspirieren. Im Interview verrät sie, warum Mut gerade heute so wichtig ist, wie Widerstände uns stärker machen – und wie wir selbst den ersten Schritt wagen können

VDI: Ihr Beitrag auf dem DIT steht unter dem Motto: „Widerstand als Antrieb: Mut, der die Welt verändert“. Was bedeutet Mut für Sie?
Annahita Esmailzadeh: Mut ist nicht das Fehlen von Angst, sondern die bewusste Entscheidung, trotz ihr zu handeln. Für mich ist Mut oft ein stiller, innerer Prozess – kein lautes, heroisches Auftreten, sondern die Ausdauer sowie das Rückgrat, gegen Widerstände und etablierte Konventionen anzutreten.
VDI: Sie sprechen immer wieder über die Vorurteile und Bias, die wir alle haben. Braucht es Mut, die alten Strukturen in Frage zu stellen und zu überwinden?
Annahita Esmailzadeh: Unbedingt – denn das Erkennen und Überwinden von Bias ist keine bloße intellektuelle Übung, sondern ein zutiefst persönlicher und oft unbequemer Prozess. Unsere Denkmuster sind in jahrhundertelangen Strukturen verwoben, in Narrative eingeschrieben, die uns oft gar nicht bewusst sind. Es erfordert Mut, diese Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen. Noch schwieriger ist es, sich mit den eigenen
unbewussten Vorurteilen zu konfrontieren, denn das bedeutet, ein Stück Sicherheit aufzugeben und eigene Überzeugungen in Frage zu stellen.
VDI: Als Tech-Leaderin bei Microsoft und ehemalige Innovationsleiterin bei SAP kennen Sie die Dynamik der Technologiebranche. Brauchen die Unternehmen hierzulande mehr Mut zur digitalen Transformation?
Annahita Esmailzadeh: Mehr Mut – ja, aber vor allem eine neue Art des Denkens. Viele Unternehmen scheitern nicht an der Technologie, sondern an der Mentalität, die sie umgibt. Digitale Transformation ist nicht nur eine Frage der Software oder Infrastruktur, sondern vor allem eine kulturelle Herausforderung. Mutig zu sein bedeutet hier, alte Geschäftsmodelle nicht als unantastbar zu betrachten, sondern als vorübergehende Zustände, die dem Wandel unterworfen sind. Es bedeutet, nicht nur auf Bewährtes zu setzen, sondern auch auf das Ungewisse – auf Experimente, iteratives Lernen und den Mut, Fehler nicht als Scheitern, sondern als notwendige Schritte in einem evolutionären Prozess zu begreifen.
VDI: Wie können Widerstände ein Auslöser für Innovationen sein? Haben Sie dafür ein Beispiel?
Annahita Esmailzadeh: Innovation entsteht oft dort, wo bestehende Systeme an ihre Grenzen geraten, wo bestehende Lösungen nicht mehr greifen und wo Menschen beginnen, sich nicht mehr mit dem Status quo abzufinden. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Entwicklung der modernen Barrierefreiheitstechnologien: Jahrzehntelang wurden Menschen mit Behinderungen in der Produktentwicklung kaum berücksichtigt, doch der gesellschaftliche und rechtliche Druck wuchs. Dieser Widerstand führte zu bahnbrechenden Innovationen – von Screenreadern bis hin zu Eye-Tracking-Systemen. Heute profitieren nicht nur Menschen mit Einschränkungen davon, sondern auch ein viel breiteres Publikum, das intuitivere und menschenzentrierte Technologien nutzt.
VDI: Sie engagieren sich für Diversität und Inklusion in der Arbeitswelt. Ist Vielfalt ein Innovationstreiber?
Annahita Esmailzadeh: Homogene Teams neigen dazu, in den gleichen Bahnen zu denken, sich in vertrauten Mustern zu bewegen. Diversität hingegen zwingt zu neuen Perspektiven, zu unkonventionellen Lösungen, zu einem tieferen Verständnis für verschiedene Nutzergruppen. Doch Vielfalt allein reicht nicht – sie muss von echter Inklusion begleitet sein, damit Ideen nicht nur existieren, sondern auch gehört, weiterentwickelt
und in die Tat umgesetzt werden. Unternehmen, die das verstehen, haben nicht nur einen ethischen Vorteil – sie haben einen Wettbewerbsvorteil.
VDI: Im Rahmen des DIT werden Sie auch beim VDI-Womentoring-Programm aktiv sein. Welche Bedeutung hat Mentoring und haben Rollenbilder für Sie?
Annahita Esmailzadeh: Mentoring ist eine der kraftvollsten Formen des Wissenstransfers – aber nicht nur auf fachlicher, sondern vor allem auf menschlicher Ebene. Es geht nicht nur darum, Wissen weiterzugeben, sondern auch darum, Mut zu machen. Besonders für Frauen in technischen Berufen ist Mentoring oft mehr als ein Karriere-Booster – es ist eine Form der Ermächtigung in einer Branche, die historisch männlich geprägt ist. Rollenbilder spielen dabei eine entscheidende Rolle: Sichtbarkeit schafft Möglichkeiten.
Welchen Rat würden Sie jungen Talenten geben, die sich in technischen Berufen behaupten wollen?
Annahita Esmailzadeh: Lernt, unbequem zu sein. Der größte Fehler, den junge Talente machen können, ist der Versuch, sich nahtlos in bestehende Strukturen einzufügen, anstatt diese Strukturen mitzugestalten. Die Technologiebranche lebt von Menschen, die nicht akzeptieren, dass Dinge sind, wie sie sind. Seid neugierig, hinterfragt alles, was als gegeben gilt, und lasst euch nicht von Unsicherheit bremsen – Unsicherheit ist oft ein Zeichen dafür, dass man an der Schwelle zu etwas Neuem steht. Und vor allem: Baut Netzwerke auf. Findet Mentoren, seid selbst Mentoren – und habt den Mut, euren eigenen Weg zu gehen, auch wenn er nicht vorgezeichnet ist.
Das Interview führte Sarah Janczura und Gudrun Huneke.
Mehr zu Annahita Esmailzadeh:
Annahita Esmailzadeh ist Führungskraft bei Microsoft.
Zuvor verantwortete sie bei SAP als Head of Innovation den Innovationsbereich für das SAP Labs in München.
Die mehrfach ausgezeichnete Wirtschaftsinformatikerin und Bestsellerautorin gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Business-Influencerinnen und Keynote-Speakerinnen im DACH-Raum. Ihre Reichweite in den Medien und auf sozialen Netzwerken setzt sie für mehr Diversität und Inklusion sowie moderne Kultur- und Führungsansätze in der Arbeitswelt ein.
Die „Diversity-Kämpferin“ (brand eins Magazin) und „digitale Pionierin“ (t3n Magazin) wurde vom Focus Magazin als eine der 100 Frauen des Jahres 2022 ausgezeichnet. Das Wirtschaftsmagazins Business Insider kürte sie als eine der Top 25 Zukunftsmacherinnen, die die deutsche Wirtschaft verändern und prägen. Sie erhielt für ihr Engagement zudem die Europamedaille sowie den German Diversity Award.
Fachliche Ansprechpartnerin:
Nina Schulz
Projektleiterin VDI-WoMentorING
Telefon: +49 211 6214-691
E-Mail: schulz_n@vdi.de